Ueber die Trinkkur in Gastein und die Versendung des Gasteiner Thermalwassers
Von
Dr. Gustav Pröll,
Brunnenarzt in Bad Gastein.
Beides wird wohl den meisten der verehrten Collegen etwas neues sein, da in den ziemlich
zahlreichen Literatur- und Journal-Artikeln über Gastein nichts darüber zu lesen ist,
noch die zurückkehrenden Badegäste darüber erzählten. - Und doch wird man sich bald
ebenso wundern über die so lange Nacht, die in dieser Beziehung herrscht, als man
sich wundert, warum in Karlsbad und andern Bädern so lange blos gebadet und nicht
methodisch getrunken und noch mehr, warum es nicht versendet wurde. Wenn man die
Geschichte der ersten Versendung des Karlsbader Wassers hört, welche enorme Mühe,
Unerschrockenheit und Consequenz der edle Arzt bedurfte, der sie zuerst ein- und
durchgeführet, und damit das enorme Geschäft der Versendung der verschiedenen
Karlsbader Wässer vergleicht, der wird neuerdings die Thatsache bestätigt finden,
dass jeder Anfang schwer ist, und dass er sich geduldig über die Vorurtheile der
Zeitgenossen hinaussetzen, des-
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enungeachtet aber unverdrossen fortarbeiten müsse.
- Dasselbe ist auch in Gastein der Fall. - Seit Jahrhunderten hat man in Gastein beim
Baden nebenher auch die warme Quelle getrunken und trinkt sie noch - aber schrieb
die guten und schlechten Wirkungen dem Baden und nicht dem Trinken zu; auch trank
man meist im Bade selbst, und legte sich dann, statt nach dem Trinken Bewegung zu machen,
wegen des gebrauchten Bades auf 1 Stunde ins Bett. Aber von einer methodischen Trinkkur
ohne zu baden, was doch zur exacten Kenntniss der Wirkungen dieser Gebrauchsweise
unumgänglich nöthig ist, war ebenso wenig die Rede, als von einer Trinkkur des
versendeten Gasteiner Wassers, oder gar von der Verwendung des versendeten zum
äusseren Gebrauche. Zwar spricht Dr. Kiene in seinem Werke über die Vortheile des
Trinkens der Gasteiner Quelle und gibt ganz richtig die passenden Krankheitsfälle an,
aber er liess meines Wissens nie eine blosse Trinkkur anwenden, da ich doch die zwei
letzten Jahre seines Wirkens an seiner Seite in Gastein practicirte und zuletzt alle
seine Patienten übernahm. - Er sagt in seinem übrigens sehr guten Werke: "Die warmen
Quellen zu Gastein" S 281: "In der Regel wird das Trinken gleichzeitig mit den
Bädern verbunden, und gerade durch diesen vereinten Gebrauch des Thermalwassers in
manchen Krankheitsformen ein glücklicheres Resultat gewonnen, als bei der einseitigen
Anwendung desselben." Diesen Passus muss ich geradezu von Seite der exacten
Naturforschung und von Seite der Erfahrung widersprechen. Wie kann man von einem minder
glücklichen Resultat bei einseitiger Anwendung sprechen, wenn man nur einige Tage die
Therma trinken lässt, und nicht methodisch so lange bis der Sättigungspunkt eintritt,
wenn man dabei die so nöthige Nachkur, d. h. Vermeidung aller medicamentösen Einflüsse
vernachlässigt. - Aber der Grund, warum von jeher nicht blos in Gastein, sondern auch
in anderen Badeorten, wo sehr gegen die einseitige Trinkkur geeifert wird, ist Theils
in der Furcht von Zeit- und Geldverlust von Seite der Patienten, theils in der
Eifersucht der Badehausbesitzer zu suchen. Wenn ein Arzt seinen Kranken blos die Trinkkur
anempfehlen würde, mit dem ernsten Verbote ein Bad zu nehmen (eines zur Reinigung
ausgenommen), der kann sicher auf die Feindschaft der Hausherren rechnen, es wäre denn,
dass der Patient die nicht genommenen Bäder sammt Dependenzen (Wäsche - Trinkgelder)
bezahle, was zwar während der hohen Saison höchst billig wäre, und von mir
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stets eifrig befürwortet wird, wozu sich jedoch die Wenigsten herbeilassen. Und wenn ein Arzt seines
Eides eingedenk, nur um seine Pflicht und sein Gewissen, nicht aber um die Gunst des
Hausherrn und Gefolge sich kümmert, so gehorchen doch die Patienten dem Badearzte
keineswegs, wenn sie nicht von ihrem langbewährten Ordinarius dem sie alles Vertrauen
schenken, eigens mit der Weisung, blos die Trinkkur zu gebrauchen, nach Gastein gesendet
werden. - Man muss die Sache nur nicht vom grünen Tische aus, sondern von praktischer
Seite betrachten. Man denke sich den Kranken den ganzen Tag umgeben von seinen
Leidensgefährten, die alle baden und ihn täglich und stündlich auf Spaziergängen,
beim Speisen etc. fragen: "Wie viel Bäder haben Sie schon genommen? oder wie
bekommen Ihnen die Bäder?" und diese Fragen bis zum Ueberdruss den ganzen Tag wiederholt,
und die Antwort: "Ich bade nicht, ich trinke blos," mit Gespötte begleitet: dafür die
Wunderwirkungen der Bäder angepriesen. Er kann sich da wundern, wenn der nicht
vertrauensfeste Kranke, so von allen Seiten mit Gegenvorstellungen bombardirt,
die Feindschaft der Hausherren fürchtend, entweder offen dem Badearzte Gehorsam aufkündet,
oder wenn er nicht den Muth dazu hat, heimlich badet, ohne Erlaubnis, ohne Leitung
und den Arzt flieht, (um nicht in Verlegenheit zu gerathen), oder zum ersehnten Bade
zu kommen, offen zu einem anderen Arzte seine Zuflucht nimmt. Ich frage nun, woher
soll die exacte Kenntnis der Wirkungen einer Trinkkur kommen, und doch wird so oft
und mit Recht an einen Brunnen- oder Badearzt von Collegen, die Frage gestellt:
Welche Wirkungen haben Sie von den Gasteiner Thermen als Trinkkur beobachtet? - Wie
spärlich müssen die Antworten ausfallen. Jetzt, wo die Lehre von den Gesundbrunnen
(fontes medicatae, denn Balneologie ist eine sehr einseitige Bezeichnung), in der
Reihe der Wissenschaften nach langer Vernachlässigung eintritt, ist es Zeit, dass
dieser Gegenstand auch von Seite der practischen Aerzte geprüft und erledigt werde;
denn von dem practischen Arzt allein kann diesem Unfug in den Kurorten gesteuert werden.
Denn sie sinds, die ihren Patienten die gemessene Ordre ertheilen können, bloss die
Trinkkur oder bloss die Badekur zu gebrauchen - oder was das beste und eigentlich
collegial von den P.T.H.H practischen Aerzten wäre, ganz dem Brunnenarzte es zu
überlassen, ob er nun die Trinkkur allein und die Badekur allein oder beide im
Verein verordnet. Denn
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1) hat dieser, weil es seine Specialität ist, bessere Kenntniss
von seinem Brunnen, 2) können sich bei aller durchdringenden Kenntnis der Heilquelle
von Seite des Hausarztes, sowohl auf der Reise nach Gastein, als während des Aufenthaltes
dortselbst Umstände eintreten, die das noch so rationelle Programm des Herrn Ordinarius
bedeutend modificiren müssen, was nur der persönlich gegenwärtige, nicht aber brieflich
consultirte Arzt vermag. Die verehrten Herren Collegen ersuche ich hiermit im Interesse
der Wissenschaft und Humanität, ihren Kranken einzuprägen, sich durch keinerlei
Gegenvorstellungen und Verlockungen von den Verordnungen des Brunnenarztes, den sie
sich gewählt haben, abhalten zu lassen, sonst kommt die Lehre von den Gesundbrunnen
nie auf einen grünen Zweig. Man sollte daher auch den Namen Balneologie (dass überdies
ein vocabulum hypridum ist) mit einem passenderen vertauschen (etwa Krenologie oder
Pegologie), denn im Worte Balneologie ist die Trinkkur eben so wenig enthalten, als
der Name Badearzt dieselbe enthält, der Name Brunnenarzt ist viel besser. - Soweit
über die Trinkkur a priori.
Nun erlaube ich mir meine Erfahrungen über dieselbe (ohne gleichzeitige Badekur gebraucht), anzugeben.
Zwar sind dieselben aus oben angeführten Grunde sehr sparsam, aber dessenungeachtet sehr
wichtig. - Während der 11 Jahre meiner Praxis in Gastein konnte ich nur 10 reine in Gastein
selbst und etwa 50 ausserhalb Gastein mit dem versendeten Thermalwasser ausgeführte Trinkkuren beobachten.
Was zuvörderst die in Gastein selbst beobachteten reinen Trinkkuren betrifft, so machte ich die interessante
Beobachtung, dass bei dem methodisch fortgesetzten Trinken sich ganz ähnliche Wirkungen und nach denselben
kritischen Erscheinungen und Zeitintervallen dieselben Phänomene der Sättigung und Nachwirkung zeigten,
wie nach dem methodisch fortgesetzten Baden. Ebendasselbe erfuhr ich von denen, welchen ich die Gasteiner
Therme gesendet hatte. Sowohl in Gastein als ausserhalb wird die Therme sowohl warm, als ganz erkaltet,
oder beim Versendeten wieder erwärmt zum Trinken benützt, und in diesen Temperatur-Gegensätzen entfaltet
es auch ganz entgegengesetzte Wirkungen. Das Gasteiner Thermalwasser warm getrunken macht bei
circa 1/2 der Patienten Verhaltung der Stuhlungen, Hartleibigkeit, während dasselbe Wasser ganz kalt getrunken,
eiche und mehrere Stuhlgänge verursacht. Nur bei den meisten fettleibigen, phlegmatischen und sehr
anämischen und an
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Brightischer Nierenkrankheit leidenden Individuen etc. fand ich die Ausnahme, dass dieselben
durch das warme Wasser weiche Stühle bekamen. Leider fehlen noch die physiologischen Versuche mit dem
warmen und erkalteten Thermalwasser, eine einzige Prüfung durch eine edelherzige Dame ausgenommen:
denn 1) die gesunden Begleiter der Patienten wollten sich trotz meiner Bitten und Furcht, es möchte
ihnen schaden, nicht herbeilassen, die eine oder die andere Wasserart lange und methodisch zu trinken;
2) durfte ich in manch seltenen Fällen, wo sich Einer und der Andere herbeiliese, selbst den Versuch
nicht erlauben, weil sonst im Falle, wenn bedeutendes Unwohlsein in Folge der Prüfung eintritt
(was zur Ermittlung der Wirkungen nöthig ist), die leidende Hauptperson auf keine Pflege der krankgewordenen
Begleiterin rechnen kann; 3) auch die bevorstehende Rückreise warnt zur Vorsicht;
4) die Einheimischen sind daran schon gewöhnt, oder die nicht Gewöhnten fanden trotz meiner Bitten
und Versprechungen keine Zeit; und 5) ich selbst war bisher mit den physiologischen Versuchen des
Bades an mir selbst jedes Frühjahr und jeden Herbst so beschäftigt, so dass ich nicht zu gleicher
Zeit auch physiologische Versuche mit dem Trinken machen konnte. Das Gasteiner Thermalwasser wandte
ich je nach der Idiosynkrasie (Temperament und Krankheitsform) der Patienten im kalten oder erwärmten
Zustande als Trinkkur an, und zwar fast in denselben Fällen, welche Dr. Kiene S 288 anführt.
a) Chronische Katarrhe, Verschleimungszustände der Luftwege, auch wenn diese Zufälle von einer
asthenischen Entzündlichkeit begleitet sind.
b) Magenkrämpfe, Säurebildung, Verschleimung in den ersten Wegen und daher rührende geschwächte
Verdauung: selbst bei beginnender Verdickung der Gewebe des Magens und der benachbarten Gebilde
erweist sich das Trinken der Therme recht nützlich.
c) Leichtgradige Stockungen, erhöhte Venosität des Unterleibes, besonders mit dem Zustande der
krankhaften Reizung oder Ueberreizung, Bauchserophein, Verschleimung und Verstopfung des Darmkanals.
d) Rheumatismus, Gicht, Haemorrhoiden, vorzüglich aber Diarrhöe und andere Metastasen, die aus
diesen primären Affectionen ihren Ursprung ableiten; Merkurialnachexie, Psora.
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e) Sand und Gries, Schleimflüsse und Hämorrhoiden der Blase, des Uterus, Mastdarms, Harnverhaltung.
Soweit Dr. Kiene. Die Fälle , in welchen ich die Trinkkur mit Nutzen anwenden liess, waren folgende:
a) Chronische Entzündung der Schleimhäute, theils mit Exsudaten im submucösen Zellgewebe, theils
mit Abstossen des Epitheliums und beide Formen sowohl in den Respirations- als auch Digestionsorganen;
aa) hierher gehören 2 Fälle von Keuchhusten im 2. Stadium an 2 jugendlichen weiblichen Individuen
(eine von 17 und eine von 25 Jahren), welche denselben von der Reise mitbrachten und auffallend
schnell blos durch die Trinkkur von 8 Tagen besser wurden, jedoch muss ich dabei erwähnen, dass
das Mädchen von 17 Jahren zugleich Armbäder nahm wegen der durch ausgedehnte Zerbrühung beider
Arme entstandenen heftigen dermatitis beider Ober- und Vorderarme, wegen welcher, da die Gefahr
der Contractur dringend Abhilfe verlangte, das Mädchen mit ihrer Mutter und Kammerjungfrau von
Bukarest hierher gekommen war; alle drei waren mit Keuchhusten behaftet, alle drei liess ich
täglich 1 Glas warmes Thermalwasser trinken; allein die an chronischer Leberentzündung leidende
Mutter vertrug das warme Thermalwasser nicht - der Keuchhusten musste bei ihr mit andern Mitteln
bekämpft werden, während die Tochter und Kammerjungfrau von Tag zu Tag besser wurden, obgleich
alle drei dieselbe Lebensweise beobachteten. Auch die Hautverbrühung wurde geheilt und die Narben
waren so schön, wie nach dem Bestreichen mit lapis infernalis. Besonders zeichnete sich das
Thermalwasser warm getrunken aus in den Fällen von übermässiger Secretion oder Schleim und daher
bei phlegmatischen Individuen; weniger ersprießlich fand ich es bei mangelnder Sekretion.
bb) Chronische Heiserkeit mit grossem Nutzen
b) Gegen Ischias nervosa bei einer Frau, die ich wegen plazenta praevia nicht baden lassen konnte;
beide Leiden wurden gehoben.
c) Gegen chronische Gelenkgicht mit acutem Anfall.
d) Gegen passive Gebärmutterblutung. In beiden Fällen Heilung.
In anderen Fällen, wo die Kranken das Baden durchaus nicht unterlassen wollten, liess ich im ersten
Jahre (bei der 1. Kur) die Kranken gar nicht trinken - im zweiten Jahr (2. Kur)
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erst nach 3 Bädern die Trinkkur damit verbinden und hatte in einem Falle, bei einem
Cavallerie-Obersten von ruhigem Temperament mit Neigung zur Urolithiase, die Freude,
im Verlauf der Trink- und Badekur mehrere linsengrosse Harnsteine abgehen zu sehen, was
aus dem neuerlich von Herrn Prof. Redtenbacher mittelst Spectralanalyse gefundenen Lithium hervorgeht,
welches nach französischen Erfahrungen vorzüglich in der Auflösung harnsauern Concremente (Steine)
leisten soll.
- Originalfassung : Abschrift (buchstabengetreu) ohne Gewähr. |